Jacob und Wilhelm Grimm
Am einem Sommermorgen sitzt ein Schneiderlein auf seinem Tisch am Fenster und näht. Da hört es eine Bauersfrau auf der Straße rufen: «Gute Marmelade! Gute Marmelade!» Das Schneiderlein streckt seinen Kopf aus dem Fenster und ruft: «Kommen Sie herauf, liebe Frau, hier Können Sie Ihre Ware verkaufen.» Die Frau geht die Stiegen zur Wohnung des Schneiderlein hinauf, und dort muß sie ihren ganzen Korb auspacken. Das Männlein sieht in alle Töpfe und kauft schließlich nur ein Viertelpfund, so daß die Frau ärgerlich weggeht. Nun holt das Schneiderlein sein Brot, schneidet sich ein großes Stück ab und streicht die Marmelade darauf. «Du wirst gut schmecken», sagt es, «aber bevor ich es esse, will ich erst den Rock fertigmachen.» Er legt das Brot neben sich und macht vor Freude immer größere Stiche.

Die Heldentat des Schneiderlein
Indessen gelangt der Geruch von der süßen Marmelade zu den Fliegen an der Wand. Sie kommen in großen Scharen herab und lassen sich auf dem Brot nieder. Das Schneiderlein entdeckt die fremden Gäste und sagt: «Ei, wer hat euch eingeladen?» Er jagt sie fort, die Fliegen aber verstehen kein Deutsch und kommen in noch größerer Zahl zurück. Da ist das Schneiderlein zorning, nimmt einen Lappen und schlägt erbarmungslos auf die Fliegen. Danach zählt es: da liegen sieben tot vor ihm.
Voll Verwunderung ruft es aus: «Bist du ein Kerl! Das muß die ganze Stadt erfahren.» Das Schneiderlein näht sich schnell einen Gürtel und stickt mit großen Buchstaben darauf. «Sieben auf einen Streich!» «Ei», sagt es dann, «nicht nur die Stadt, die ganze Welt soll es erfahren!», und sein Herz klopft ihm vor Freude.
Das Schneiderlein zieht in die Welt
Nun bindet es seinen Gürtel um und sucht im Haus etwas, das es mitnehmen kann, denn es will hinaus in die Welt ziehen. Es findet aber nur einen alten Käse, den steckt es in die Tasche. Vor dem Tor fängt es noch einen Vogel, den es zu dem Käse steckt. So ausgerüstet, schreitet es munter los. Nach einiger Zeit kommt es an einen hohen Berg, es steigt hinauf, und als es oben ankommt, sitzt auf der Spitze ein großer Riese.
«Hallo, Kamerad», sagt es zu ihm, «ich versuche, in der Welt mein Glück zu machen. Hast du Lust mitzugehen?» Der Riese sieht es an und spricht: «Du bist ein miserabler Kerl!» Das Schneiderlein knöpft seinen Rock auf und zeigt dem Riesen seinen Gürtel: «Hier hast du schriftlich, was für ein Mann ich bin. «Der Riese liest: «Sieben auf einen Streich!» Er glaubt, daß das Schneiderlein sieben Menschen erschlagen hat, und bekommt doch ein wenig Respekt vor ihm.
Der Riese prüft die Kräfte des Schneiderlein
Da er aber seine Kräfte Prüfen will, nimmt er einen Stein in die Hand und drückt ihn zusammen, bis Wasser heraustropft. «Das tu mir nach», sagt er zu ihm, «wenn du so stark bist.» Das Schneiderlein antwortet: «Da kann ich auch.» Er holt den faulen Käse aus der Tasche un drückt ihn so sehr, daß der Saft herausläuft. Der Riese glaubt seinen Augen nicht und weiß nicht, was sagen.
Er hebt einen Stein auf und wirft ihn so hoch, daß er nicht mehr zu sehen ist. «Jetzt mach mir das nach, du Zwerg!» spricht er. Das Schneiderlein sagt: «Dein Wurf war gut, aber der Stein ist doch wieder auf die Erde gefallen; ich will einen werfen, der soll nicht zurückkommen.» Es greift in die Tasche, nimmt den Vogel und wirft ihn in die Luft. Den Vogel, froh über seine Freiheit, fliegt höher und höher, und bald kann man ihn nicht mehr sehen. «Wie hat dir das gefallen, Kamerad?» fragt es den Riesen. «Werfen kannst du», sagt dieser, «aber nun will ich sehen, ob du auch etwas Schweres tragen kannst.» Darauf führt er das Schneiderlein zu einem riesigen Eichbaum, der gefallt auf der Erde liegt.
Das Schneiderlein hält den Riesen zum Narren
«Tragen wir den Baum zusammen aus dem Wald!» sagt der Riese. «Nimm du das untere Ende auf deine Schulter!», rät das Männlein, «ich will die Spitze mit all ihren Ästen tragen, denn das ist doch schwerer.» Der Riese hebt den Stamm und legt ihn auf seine Schulter. Das Schneiderlein aber setzt sich hinten auf einen Ast, pfeift lustige Lieder, und der Riese muß den ganzen Baum allein tragen. Nach einer Weile wird ihm die Last zu schwer. Er ruft: «Höre, ich muß den Baum fallen lassen.» Da springt das Schneiderlein schnell herunter, faßt den Baum mit beiden Armen und sagt zum Riesen: «Du bist ein so großer Kerl und kannst den Baum nicht tragen!»
Sie gehen weiter und kommen an einem Kirschbaum vorbei. Der Riese faßt die Krone, wo die reifen Früchte hängen, und gibt sie dem Schneiderlein in die Hand. Dieses ist zu schwach und kann der Stärke des gebogenen Baumes nich standhalten. Es fliegt durch die Luft und landet auf der anderen Seite des Baumes. «Was ist das?», fragt der Riese, «kannst du die schwache Gerte nicht halten?» «Kräfte fehlen mir nicht», antwortet es, «aber dort unten schießen die Jäger ins Gebüsch; darum bin ich über den Baum gesprungen. Kannst du mir das nachmachen?» Der Riese will auch über dem Baum springen, kann aber nicht, denn er bleibt immer in den Ästen hängen. So gewinnt das Schneiderlein auch diese Probe.
In der Höhle der Riesen
«Komm mit in unsere Höhle und übernachte bei uns», spricht der Riese, und das Schneiderlein folgt ihm willing. Dort angekommen, zeigt ihm der Riese ein Bett, in dem es sich ausruhen kann. Das Schneiderlein legt sich aber nicht hinein, sondern verkriecht sich in eine Ecke. Um Mitternacht kommt der Riese mit einem Eisenstab und schlägt das Bett, in dem vermeintlich das Männlein schläft, mit einem Hieb ganz durch. Er denkt, daß er nun diesen Grashüpfer nicht mehr sehen muß.
Am nächsten Tag gehen die Riesen in den Wald und haben das tote Schneiderlein schon ganz vergessen, als dieses ganz lustig ihnen entgegenkommt. Die Riesen erschrecken und fürchten, daß es sie alle totschlagen will; deshalb laufen sie hastig davon.
Am Hof des Königs
Nun geht das Schneiderlein weiter, immer seiner spitzen Nase nach, bis es an den Hof eines Königs kommt. Weil es müde ist, legt es sich ins Gras und schläft ein. Die Hofleute betrachten es von allen Seiten un lesen auf dem Gürtel: «Sieben auf einen Streich!» Sie meinen: «Das ist sicher ein großer Kriegsheld», und sie melden es dem König. Außerdem raten sie ihm: «Das ist ein wichtiger und nützlicher Mann, wenn ein Krieg ausbricht; den dürft Ihr nicht fortgehen lassen.» Dem König gefällt der Rat. Er läßt das Schneiderlein holen und nimmt es in seine Dienste. Obendrein bekommt es eine besondere Wohnung zugeteilt.
Die Soldaten aber sind wütend auf das Schneiderlein und haben zugleich Angst vor ihm. «Was soll aus uns werden», fragen sie sich, «wenn wir Zank mit ihm bekommen? Er wird zuhauen und auf einen Streich immer sieben von uns töten.» Also fassen sie einen Entschluß; sie gehen zum König, bitten um ihren Abschied und sagen: «Wir können es neben einem solch starken Mann nicht aushalten.» Der König ist traurig, denn er will nicht wegen des Schneiderlein alle seine treuen Diener verlieren.
Der König will das Schneiderlein los werden
Er überlegt lange, wie er es los werden kann. Wegschicken will er es nicht, weil er fürchtet, es könnte ihn totschlagen und sich dann auf seinen Thron setzen. Endlich findet er eine Lösung und läßt dem Schneiderlein sagen: «Da du ein so tüchtiger Krieger bist, will dir der König einen Vorschlag machen. In einem Wald seines Landes leben zwei Reisen, die mit Rauben, Morden und Brennen großen Schaden anrichten. Wenn du sie tötest, will er dir seine Tochter zur Gemahlin geben und das halbe Königreich dazu. Auch sollen hundert Reiter dich begleiten.» Das Schneiderlein findet das kein schlechtes Angebot und antwortet: «Die Riesen werde ich sicher besiegen und brauche nicht einmal die hundert Reiter. Wer sieben auf einen Streich trifft, wird mit zweien leicht fertig.»
Also macht es sich auf den Weg, und am Waldrand sagt es zu den Reitern: «Bleibt hier, ich verde die Riesen allein beseitigen.» Er tritt in den Wald und findet die beiden schnarchend unter einem Baum. «Gewonnenes Spiel», sagt sich das Schneiderlein, steckt sich die Taschen voller Steine und klettert auf den Baum.
Das Schneiderlein erledigt die Riesen
Nun wirft es einem der Riesen einen Stein nach dem andern auf die Brust. Der wacht auf und sagt zornig zu seinem Gesellen: «Warum schlägst du mich?» «Du träumst», spricht der andere, «ich schlage dich nicht.» Sie wollen wieder einschlafen, da wirft das Schneiderlein dem zweiten einen Stein auf die Brust; der fährt hoch und fragt: «Was soll das? Warum wirfst du mit Steinen nach mir?» «Ich werfe nichts», antwortet der erste; und so streiten sie sich eine Weile. Aber sie sind so müde, daß ihnen bald die Augen wieder zufallen.
Das Schneiderlein fangt sein Spiel von neuem an und wirft mit aller Kraft dem ersten Riesen den dicksten Stein auf die Brust. Da schreit dieser: «Das ist mir doch zu viel!», springt wie ein Wahnsinniger auf und schlägt seinen Gesellen. Der gibt mit gleicher Münze zurück. Da geraten sie in Wut, reißen Bäume aus und schlagen damit aufeinander ein, bis sie endlich beide tot umfallen.
«Nur gut, daß sie nicht meinen Baum ausgerissen haben», sagt das Schneiderlein, steigt fröhlich hinunter und haut mit seinem Schwert jedem ein paar Wunden in die Brust. Dann geht er zu den Reitern und spricht: «Im Wald liegen die zwei Riesen, ich habe sie erledigt. In ihrer Todesangst haben si noch Bäume ausgerissen.» «Hast du gar keine Wunde?», fragen die Reiter und können nicht glauben, daß das Schneiderlein unversehrt vor ihnen steht.
Im Wald finden sie die zwei Riesen in ihrem Blut und die ausgerissenen Bäume rings herum liegen. Sie sind sehr verwundert, aber noch mehr erschrocken, sie glauben, das Schneiderlein würde sie alle umbringen, wenn sie einmal mit ihm in Streit geraten. Sie reiten heim und erzählen dem König die Heldentat. Das Schneiderlein kommt auch un bittet den König um die versprochene Belohnung.
Der König bereut sein Versprechen
Der König denkt von neuem darüber nacht, wie er den Kriegshelden los werden kann, denn er will ihm seine Tochter auf keinen Fall zur Frau geben. Da sagt er: «Im Wald gibt es ein Einhorn, das hat schon viele Tiere und Menschen umgebracht. Fange es, wenn du meine Tochter zur Frau haben willst.» Das Schneiderlein ist auch mit diesem Vorschlag einverstanden.
Es nimmt einen Strick und geht zum Wald. Dort heißt es seine Begleiter draußen warten, denn es will das Einhorn allein fangen. Es tritt in den Wald, und da kommt auch schon das Einhorn direkt auf das Schneiderlein zugesprungen. Dieses sagt: «Langsam, langsam», bleibt stehen und wartet, bis das Tier ganz nahe ist. Dann springt es schnell hinter den nächsten Baum Das Einhorn rennt in vollem Lauf gegen den Baum, und sein Horn bleibt so fest darin stecken, daß es dasselbe mit aller Kraft nich wieder herausziehen kann. So ist es also gefangen.
Das Schneiderlein kommt hinter dem Baum hervor, bindet dem Einhorn den Strick um den Hals und führt es hinaus zu seinen Gesellen und danach vor den König. Erneut bittet es diesen um das Versprochene.
Der König ersinnt eine neue List
Der König erschrickt, denkt sich eine neue List aus und sagt zu dem Schneiderlein: «Bevor wir Hochzeit feiern können, müßt du mir ein Wildschwein fangen. Das hat im Wald großen Schaden angerichtet. Meine Jäger sollen dir helfen.» «Sehr gern», antwortet das Schneiderlein, «das wird für mich ein Kinderspiel sein.» Also geht es wiederum in den Wald und läßt die Jäger draußen. Die sind sehr froh, denn das Schwein hat sie oft so wild empfangen, daß sie ihm nicht mehr begegnen möchten.
Als das Wildschwein das Männlein entdeckt, läuft es mit schäumendem Mund und wetzenden Zähnen auf es zu. Das Schneiderlein steht aber neben einer Kapelle, springt hinein und oben zum Fenster schnell wieder hinaus. Das Schwein ist ihm in die Kapelle gefolgt. Behend läuft das Schneiderlein zur Tür, schlägt sie zu und hat so das Tier gefangen. Er ruft die Jäger, zeigt ihnen seinen Fang und geht zurück zum König. Dieser muß nun endlich sein Versprechen halten und ihm seine Tochter zur Frau geben und dazu ein halbes Königreich.
Das Schneiderlein wird König
Natürlich ist der König nicht sehr glücklich über diese Heirat, aber immerhin glaubt er, daß sein zukünftiger Schwiegersohn ein großer Kriegsheld ist. Die Hochzeit wird also mit großer Pracht und kleiner Freude gefeiert und aus einem Schneider ein König gemacht.
Nach einigen Tagen hört die junge Königin, wie das Schneiderlein im Traum spricht: «Junge, mach mir den Rock und flick mir die Hosen, oder ich gebe dir mit der Elle eins auf die Ohren!» Da merkt sie, von welchem Stand ihr junger Gemahl ist. Am nächsten Morgen klagt sie dem König ihr Leid und bittet ihn, sie von dem Mann zu befreien, den nur ein Schneider ist. Der König tröstet sie und spricht: «Laß heute Abend deine Kammertür offen. Einige Diener werden davorstehen und, wenn er schläft, hineingehen und ihn fesseln.»
Ein Waffenträger des Königs hat jedoch diese Worte gehört, und weil er dem jungen König treu ist, erzählt er ihm alles. Das Schneiderlein läßt sich nich aus der Ruhe bringen und sagt: «Ich weiß mir zu helfen.» Am Abend legt es sich wie gewöhnlich mit seiner Frau zu Bett. Als diese glaubt, daß er schläft, steht sie auf, öffnet die Tür und legt sich wieder hin.
Da beginnt das Schneiderlein wie im Schlaf laut zu reden: «Junge, mach mir den Rock und flick mir die Hosen, oder ich gebe dir mit der Elle eins auf die Ohren! Ich habe sieben auf einen Streich erschlagen, ich habe zwei Riesen getötet, ein Einhorn und ein Wildschwein gefangen und soll die vor der Kammer fürchten!» Als die Diener draußen die Worte hören, fliehen sie voll panischer Angst und keiner will sich mehr dem Schneiderlein nähern. So ist und bleibt es sein Lebtag ein König.